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32. Feuerspei
Buch

»Jetzt hast du ihn am Hals«, sagte Tante Zelda, als sie Septimus den blutenden Finger verband. »Mit dem Biss hat er dich geprägt, jetzt seid ihr untrennbar verbunden. Er wird eine ziemliche Nervensäge, wenn er größer wird. Du solltest dir ein Buch über Drachenerziehung besorgen. Allerdings weiß ich nicht, wo man so etwas heutzutage bekommt.«

Septimus saß da und betrachtete die zerbrochenen Überreste des Steines, den ihm Jenna während ihres ersten Aufenthalts bei Tante Zelda geschenkt hatte. Sie hatte ihn gefunden, als sie gemeinsam vor dem Jäger flohen – er hatte in dem unterirdischen Gang gelegen, der zu dem Tempel führte, in dem das Drachenboot versteckt war. Septimus hatte den Stein wie einen Schatz gehütet. Er war das erste Geschenk, das er jemals bekommen hatte. Und als er jetzt die dicke grüne Eierschale betrachtete, die zerbrochen in seinen Händen lag, konnte er nicht glauben, dass sein schöner Stein in Wahrheit ein Drachenei gewesen war. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, so fragte er sich, dass so etwas passierte?

Die Wahrscheinlichkeit war verschwindend gering. Septimus wusste nicht, dass es auf der ganzen Welt nur ungefähr fünfhundert Dracheneier gab, und es war viele, viele Jahre her, dass ein Mensch beim Ausbrüten eines Drachen geholfen hatte. Gewöhnlich werden Dracheneier in alten, längst vergessenen Drachenverstecken gefunden, und viele Menschen, die eines entdecken, nehmen es mit und bewahren es auf, weil es so schön glänzt. Nicht alle Eier sind grün, viele sind blau, und bisweilen findet sich auch ein rotes. Doch im Allgemeinen enden sie in einer Vitrine oder einem alten Schuhkarton und werden niemals ausgebrütet, denn damit aus einem Drachenei ein Drachenbaby schlüpfen kann, ist eine komplizierte Kette von Ereignissen erforderlich, die alle in der richtigen Reihenfolge und innerhalb einer bestimmten Zeitspanne eintreten müssen. Zum letzten Mal war dies fünfhundert Jahre zuvor auf einer einsamen kleinen Insel geschehen, als ein schiffbrüchiger Seemann eines Morgens aufwachte und verblüfft feststellte, dass sich sein geliebter blauer Stein in einen äußerst lästigen Gefährten verwandelt hatte.

Wie der Schiffbrüchige hatte Septimus unwissentlich alles getan, was getan werden muss, um ein ruhendes Drachenei auszubrüten. Zunächst einmal hatte er den Brütvorgang in Gang gesetzt, als er das Ei bei seinem letzten Besuch in der Hüterhütte dicht vor dem Kamin hatte liegen lassen. Ein Drachenei muss nämlich mindestens vierundzwanzig Stunden lang einer Hitze von über achtzig Grad ausgesetzt sein, damit dies geschieht. Danach braucht es ein Jahr und einen Tag lang beständig Wärme und Bewegung.

Als Septimus das Drachenei wieder an sich genommen hatte, beschloss er, es in seiner Tasche aufzubewahren. Auf diese Weise gab er dem Ei nicht nur die nötige Wärme, sondern vermittelte ihm auch das Gefühl von Bewegung, das es braucht. Ein Drache wird nämlich nicht schlüpfen, nur weil es warm ist. Er muss auch das Gefühl haben, dass seine Mutter ihn mit sich herumträgt und für ihn da ist, wenn er geschlüpft ist. Keine Bewegung bedeutet für das Drachenei keine Mutter. Ohne etwas zu ahnen, gab Septimus dem Ei ein Jahr und einen Tag lang Wärme und lief und hüpfte mehr als genug, um den kleinen Drachen davon zu überzeugen, dass seine Mutter sehr rege war. Wenn ein Jahr und ein Tag verstrichen sind, ist der Drache fast so weit, und doch kann selbst in diesem Stadium alles noch schief gehen. Um ihn aufzuwecken, ist ein kräftiger Stoß erforderlich. Bleibt dieser Stoß in den folgenden sechs Monaten aus, stirbt der Drache und erhält nie wieder die Chance zu schlüpfen. Eine Drachenmutter nutzt diese Zeit gewöhnlich, um sich einen sicheren Platz zu suchen, an dem sie brüten und das Drachenbaby aufziehen kann. Hat sie einen gefunden, beißt sie ganz sachte in das Ei. Zum Glück für das Ei von Septimus waren die Wolverinen freundlicherweise für die Drachenmutter eingesprungen, als sie sich an der äußeren Schale die Zähne ausgebissen hatten. Zu diesem Zeitpunkt war das Baby schon fast ausgebrütet, aber eben nur fast, noch nicht ganz. Ein Letztes fehlte noch, und das hatte nicht Septimus, sondern sein Bruder Simon beigesteuert. Das Drachenei brauchte einen Hauch Schwarze Magie.

Jede Drachenmutter erfüllt dieses Erfordernis auf ihre Weise. Manche entführen ein vorbeikommendes Dunkelwesen und zeigen es dem Ei, andere lassen das Ei über Nacht vor einem schwarzen Hexenhaus liegen und hoffen, dass es am nächsten Morgen noch da ist. Manche Drachen besitzen selbst genug Schwarze Magie und brauchen sich keine zusätzliche zu beschaffen. Als nun Simons Umhang zur Schlange wurde und sich um Septimus und das Ei legte, war die letzte Bedingung erfüllt, und die Uhr begann zu ticken. Das Drachenbaby war jetzt bereit, innerhalb von zwölf Stunden zu schlüpfen, und genau das hatte es getan.

»Ich verstehe nicht viel von Drachen, und von neugeborenen noch weniger«, sagte Tante Zelda, als sie Septimus’ Finger fertig verbunden und den letzten Bissen ihres Kohlsandwichs verschlungen hatte. »Aber ich weiß, dass man ihnen einen Namen geben muss, je früher, desto besser. Wenn man zu lange damit wartet, bleiben sie namenlos und kommen nie, wenn man sie ruft. Soweit ich weiß, ist es schon schwer genug, sie dazu zu bringen, dass sie einen überhaupt beachten. Auf jeden Fall soll man ihnen in den ersten vierundzwanzig Stunden nicht von der Seite weichen. Es wäre also besser, du gibst ihn jetzt wieder Septimus, Jenna.«

»Hier hast du ihn, Sep«, sagte Jenna ein wenig bedauernd, hob die kleine geflügelte Echse aus ihrem Schoß und reichte sie Septimus. »Ist er nicht süß?«

Septimus besah sich den schlafenden Drachen, der zusammengerollt in seiner Hand lag. Er war erstaunlich schwer für seine Größe und fühlte sich kühl und glatt an, wie das Ei, aus dem er geschlüpft war.

Nicko gähnte laut und streckte sich. »Ich brauche eine Mütze voll Schlaf«, sagte er. Sein Gähnen war ansteckend.

»Zuerst einen Namen«, sagte Tante Zelda, »dann könnt ihr schlafen gehen. Wie soll er heißen?«

Septimus hatte keine Idee. Er sah den Drachen an und gähnte seinerseits. Er war viel zu müde, um sich Namen für Drachen auszudenken. In diesem Moment setzte der Drache sich auf und hustete ein Stück Eihaut aus. Dabei schössen zwei kleine Flammen aus seinen Nüstern und versengten Septimus an der Hand.

»Au!«, stöhnte er. »Er speit Feuer nach mir. Ah, das ist es – Feuerspei. So soll er heißen. Feuerspei.«

»Dann mach gleich weiter«, sagte Tante Zelda.

»Wie weiter?«, fragte Septimus, der an seinen verbrannten Fingern saugte.

»Drachen mögen es, wenn alles seinen geregelten Gang geht«, erklärte ihm Tante Zelda. »Du musst sagen ... lass mich überlegen ... ach ja ... Oh treuer Gefährte und furchtloser Freund, der du mit mir bis zum Ende vereint, dein Name sei Feuerspei ... oder Pudelgesicht oder Derek ... was du dir eben ausgedacht hast.«

Septimus betrachtete den Drachen in seiner Hand und murmelte müde: » Oh treuer Gefährte und furchtloser Freund, der du mit mir bis zum Ende vereint, dein Name sei Feuerspei.« Der Drache sah ihn ungerührt mit seinen grünen Augen an und hustete noch etwas Eihaut aus.

»Pfui Teufel«, sagte Septimus.

Septimus bekam in dieser Nacht nicht viel Schlaf. Feuerspei war unruhig. Jedes Mal, wenn Septimus einschlummerte, zwickte ihn der Drache in die Finger oder kratzte mit seinen scharfen Krallen an seinen Kleidern. Schließlich stopfte er den Drachen entnervt in den Beutel zurück, in dem er das Ei aufbewahrt hatte. Da beruhigte er sich endlich und schlief ein.

Am nächsten Morgen wurden sie viel zu früh geweckt, als Feuerspei bei dem verzweifelten Versuch, ins Freie zu gelangen, wie eine Fliege immer wieder gegen die Fensterscheibe flog.

»Sag ihm, er soll Ruhe geben, Sep«, meckerte Nicko, zog sich das Kissen über den Kopf und versuchte, wieder einzuschlafen. Septimus stand auf und pflückte Feuerspei vom Fenster. Er begann zu ahnen, was Tante Zelda gemeint hatte, als sie sagte, dass man mit Babydrachen nur Ärger habe. Der Drache kratzte mit seinen kleinen scharfen Krallen an seiner Hand, und Septimus stopfte ihn in den Beutel zurück.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und schien durch den Marschnebel. Septimus spürte, dass er zu wach war, um sich wieder schlafen zu legen. Er blickte zu Jenna, Nicko und Wolfsjunge hinüber. Sie waren noch in ihre Decken gewickelt und wieder eingeschlafen. Um sie nicht zu stören, beschloss er, den Drachen nach draußen zu bringen, damit er zum ersten Mal Morgenluft schnuppern konnte.

Lautlos zog er die schwere Tür hinter sich zu und ging den Weg zum Drachenboot hinunter. Es war bereits jemand da.

»Was für ein herrlicher Morgen«, sagte Tante Zelda nachdenklich.

Septimus setzte sich neben sie auf die Holzbrücke, die sich über den Mott spannte. »Ich hab mir gedacht, dass das Drachenboot vielleicht sein Baby kennen lernen sollte. Ich meine, Feuerspei ist doch das Ei des Drachenboots, oder?«

»Das ist anzunehmen«, erwiderte Tante Zelda. »Obwohl man sich bei Drachen nie sicher sein kann. Aber Feuerspei hat dich geprägt, deswegen würde ich die Dinge nicht komplizieren. Hier, das habe ich gefunden. Für dich. Ich wusste doch, dass ich irgendwo noch eins habe.« Sie reichte ihm ein kleines grünes Buch, dessen Einband verdächtig nach Drachenhaut aussah. Sein Titel lautete: Wie man die Aufzucht eines Drachen überlebt: ein praktischer Ratgeber.«

»Natürlich brauchst du eigentlich den Almanach der geflügelten Frühzeitechsen«, fuhr Tante Zelda fort. »Aber ich befürchte, dass nicht einmal in der Pyramidenbibliothek ein Exemplar stehen wird. Leider wurden sie auf leicht entflammbarem Pergament geschrieben, deshalb sind einfach keine mehr zu bekommen. Aber vielleicht hilft dir ja der Leitfaden weiter.«

Septimus nahm das modrig riechende Buch und las müde den Text auf der Rückseite.

»Dieses Buch hat mir das Leben gerettet. Kein Drachenzahn kann den Deckel durchdringen. Tragen Sie dieses Buch ständig bei sich.«

»Dank der praktischen Tipps in diesem unschätzbaren Ratgeber habe ich bei Reißzahns Aufzucht bloß einen Finger verloren.«

»Nachdem ich von Skibby geprägt worden war, kehrten mir alle Freunde den Rücken, und ich war drauf und dran, verrückt zu werden, bis ich dieses Buch las. Jetzt darf ich die Anstalt an den Wochenenden verlassen – und wer braucht schon Freunde ?«

»Oh, danke, Tante Zelda«, sagte Septimus niedergeschlagen.

Sie blieben schweigend sitzen, hingen ihren Gedanken nach und lauschten den Geräuschen der Marschen, während die Wärme des Sommertages langsam den Nebel durchdrang und die aktiveren Marschbewohner weckte. Wie Jenna hatte Septimus gelernt, die verschiedenen Geräusche zu erkennen, und er war sich sicher, dass das Glucksen, das er vernahm, von den Saugnäpfen zweier Wassernixen herrührte, das scharfe Schnalzen von einem Sumpfschnapper und das Plätschern von mehreren Aalbabys. Dann hatten sich die letzten Dunstschleier aufgelöst, und ein strahlend blauer Himmel kündigte einen drückend heißen Tag an.

Tante Zelda hob den Blick in das klare Blau. Sie sah irgendwie angespannt aus, wie Septimus fand. Auf ihrem runzligen runden Gesicht, das ihre krausen und leicht zerzausten grauen Haare rahmten, lag ein ängstlicher Ausdruck, und ihre tiefblauen Hexenaugen funkelten, als sie den Blick auf etwas am Himmel richtete. Plötzlich stand sie auf und nahm Septimus an der Hand.

»Schau nicht nach oben«, sagte sie mit leiser Stimme. »Und fang nicht an zu rennen. Geh ganz langsam mit mir wieder hinein.«

In der Hütte angekommen, schloss sie ruhig die schwere Vordertür und lehnte sich dagegen. Sie war ganz blass, und ihre Augen blickten verzweifelt.

»Jenna hat Recht«, flüsterte sie, wie zu sich selbst. »Das Drachenboot muss von hier weg.«

»Wieso? Was ... was hast du gesehen?«, fragte Septimus, obwohl er sich die Antwort denken konnte.

»Simon. Er ist da oben. Kreist wie ein Geier und wartet.«

Septimus schnaufte tief durch, um das mulmige Gefühl in der Magengegend zu vertreiben. »Keine Sorge, Tante Zelda«, sagte er. »In der Burg ist das Drachenboot sicher. Ich werde es dort hinbringen.«

Die Frage war nur, wie.

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